Ich konnte mich schon immer stunden- und sogar tagelang in Museen aufhalten. Deshalb war bei meinem letzten Aufenthalt im Hamburger Bahnhof, Ende August 2020, im Anschluss an den Besuch Katharina Grosses fabelhafter „It Wasn’t Us„-Installation für mich klar, dass ich nach einer Kaffee- und Kuchenpause auch die weiteren Ausstellungsräume ansehe. Das ohne sehr hohe Erwartungen, da ich zuletzt vor etwas über zwei Jahrzehnten dort war, als ich noch in Berlin lebte. Einige Ausstellungsstücke in den etwas in die Jahre gekommenen Räumen habe ich wiedererkannt, anderes war mir ganz neu, obwohl es vergleichsweise alt aussah: In einem großen dunklen Raum wurden Kurzfilme auf die Wände projiziert – alles in Schwarz/Weiß, ein älterer Herr mit weißen Haaren in schwarzer Anzughose und weißem Hemd, der „sich zu schaffen macht“, sich bewegende Kohlezeichnungen, fliegende Papierseiten. Ich musste mich ein wenig darauf einlassen, setzte mich und nahm interessiert und zunehmend amüsiert das skurrile Treiben an den Wänden auf, liess mich auf die Reise zum Mond mit einem Espressokocher entführen und knipste beim Hinausgehen noch schnell das erklärende Museumsschild, um mich bei Gelegenheit mal etwas intensiver mit diesem Kaffee-trinkenden Künstler aus Südafrika zu beschäftigen.
(Darüber, dass mir in den darauf folgenden Wochen bei Facebook immer wieder Anzeigen für Kentridge-Animations-Masterclasses angezeigt wurden, möchte ich an diese Stelle gar nicht länger nachdenken. Das würde ja bedeuten, dass Facebook die Fotos meines Smartphones ausliest. o_O Die Zeiten sind unheimlich genug.)
Am späten 31. Oktober erreichte mich dann die Nachricht aus kulturell kenntnisreicher Quelle, dass die am 23. Oktober frisch eröffnete Hamburger William Kentridge-Ausstellung „fantastisch und für Hamburger Verhältnisse sehr ungewöhnlich“ sei. Nun ja: Bereits am 2. November sollten die Museen für mehrere Monate aufgrund der aktuellen Situation™ ihre Türen bis Mitte März 2021 wieder schliessen.
Damit war klar: Am nächsten Tag geht es in die Deichtorhallen!
Wie ich am 1. November 2020 bereits twitterte:
Was ich heute in der #WilliamKentridge-Ausstellung in den @Deichtorhallen sehr mochte: Die Nonchalance des immer weiße Hemden tragenden Künstlers bei der Arbeit.
William Kentridge ist jetzt Mitte 60, gezeigt werden Werke, die er in den letzten vierzig Jahren geschaffen hat – in einer geradezu aberwitzigen Bandbreite: Animationsfilme, Drucke, komplexe Installationen, (kinetische) Skulpturen, anamorphotische Projektionen, Videos, Wandteppiche und Zeichnungen sind zu sehen. Sein visuelles Vokabular, das er regelmäßig variiert und remixt, umfasst dabei Megaphone, Nähmaschinen, Totenschädel, Nashörner, Gasmasken, Grammophone, Tageszeitungen, Bohrtürme, Kurbeln, Katzen (gerne struppig), Pferde, Prozessionen, Stative, Tauben, Metronome, Schreibmaschinen, Strommasten, Fahrradketten und den klassischen achteckigen Aluminium-Espressokocher, der auch bei der Reise zum Mond als Rakete dient. Der Mann hat auch schon Opern inszeniert, entsprechend Bild-gewaltig ist sein Werk.
Das von ihm genutzte Farbspektrum ist hingegen sehr klar Schwarz und Weiß, ein wenig Braun – mit sehr wenigen farbigen Akzenten. Einige grüne Schraffierungen sind schon bunt genug. Rote Schrift, blaue Schrift. Die Kraft entsteht aus der (meistens: Kohle-) Zeichnung heraus, die er immer wieder ausradiert, variiert, weiter entwickelt, ein permanenter Prozeß der Veränderung:
Als Sohn aus einer Juristen-Familie, beide Eltern waren in der Anti-Apartheitsbewegung Südafrikas prominent aktiv, lag seine Entscheidung, den künstlerischen Weg einzuschlagen, nicht unbedingt nahe. Er lehnt es ab, Kunst didaktisch als Mittel politischer Arbeit einzusetzen – auch wenn seine Werke zu sehr weiten Teilen politisch konnotiert sind und abbilden, wie Postkolonialismus sich soziokulturell in Südafrika auswirkt. Gleichzeitig hinterfragt er, inwieweit er sich als weißer Künstler für die Sache der Schwarzen stark machen kann und darf. Mehr zu seiner Bio gibt es im Interview hier.
Für mich ist diese Ausstellung noch aus zwei weiteren Gründen ganz besonders sehens- und empfehlenswert:
Der erste Grund sind William Kentridges benutzte Materialien – Selten vorher ist mir wie hier aufgefallen, wie viel Wert ein Künstler darauf legt, mit ganz spezifischen Materialien zu arbeiten: Reines afghanisches Lapislazuli-Aquarellpigment, Maulbeer-Papier, Schuhcreme auf Leinwand, Sugar-Lift Aquatinta auf Papier, neben Siebdruck auf sehr klassischem Velin d’Arches-Papier oder konventionellen Kaltnadelradierungen auf Papier. Kunstgeschichts-Studierende auf der Suche nach einem lohnenswerten Master-Thema könnten hier vermutlich fündig werden…
William Kentridge – Skeletal Horse, 2017
Aquatinta-Radierung auf handgeschöpften Büttenpapier aus 100% Hanf Phumani, montiert auf rohem Baumwolltuch
Edition 10 – Gedruckt von Kim Berman, Nathi Ndlandla und Pontsho Sikhosana im Artist Proof Studio, Johannesburg, Südafrika
Der zweite Grund ist die Ausstellungsarchitektur von Sabine Theunissen aus Brüssel, die Kentridge seit 2003 kennt und bereits seit 2005 intensiv mit ihm zusammenarbeitet. Dass diese Kollaboration sehr fruchtbar ist, zeigen die Räume in den Deichtorhallen, die Abfolge der Wege, die umgesetzte Architektur in dem wandlungsfähigen Ausstellungskörper der Halle für aktuelle Kunst – sie ist jedesmal ein Möglichkeitsraum, der aber selten so gut wie in diese Fall bespielt wurde.
Ganz besonders gut gefiel mir die Idee, die Set-Planung im Werkstatt-Bereich der Kentridge-Ausstellung transparent zu machen und dem Publikum gleich das ganze Modell mit Materialproben zu zeigen. Das gesamte Set-Design ist von einer Meta-Ästhetik zu den Werken Kentridges und ergänzt diese, ohne sie zu übertrumpfen oder sich zu stark in den Vordergrund zu spielen. Es entsteht eher das Gefühl, dass die Kunst und die Architektur hier Hand in Hand greifen und sich im dem Moment etwas Größeres ergibt als die Summe der Einzelteile.
Eine ganz kleine Einschränkung gibt es von mir trotz aller Euphorie dennoch: Da sehr, sehr viele der ausgestellten Video-Installationen permanent mit lautem Ton laufen und die offenen Kuben und Separées trotz Teppich und Kork den Schall weniger dämpfen als offen weitertragen, empfehle ich allen, die empfindlich auf akustische Reizüberflutung reagieren, gute Noise Cancelling-Kopfhörer nicht zu vergessen.
William Kentridge | Why Should I Hesitate – Putting Drawings to Work
Hamburg | Deichtorhallen 2021 – aufgrund der aktuellen Situation™ verlängert bis zum 1. August 2021. Zeitfenster-Tickets müssen vorbestellt werden! Die Deichtorhallen liegen zentral keine zehn Minuten zu Fuß vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Auf »Barrierefreiheit geprüft« sind die Deichtorhallen für Menschen mit Gehbehinderung barrierefrei und für Rollstuhlfahrer:innen teilweise barrierefrei.
Im März gibt es noch kostenfreie Online-Führungen!
Kulturt/r/ipp Sound: Paper Music / Journey to the Moon